The Raven

Es gibt Dinge, die sind einfach wunderschön. Eines dieser Dinge ist das Gedicht: „The Raven“. Poe gehört für mich sowieso zu den besten Schriftstellern, die es je gegeben hat. Viele seiner Kurzgeschichten haben mich tief berührt und inspiriert und erzeugen auch heute noch Bilder und Ideen in meinem Kopf. Das geht nicht nur mir so, denn nicht umsonst gibt es solche tollen CDs wie „Tales of Mysteries and Imagination“ vom Alan Parsons Project.

„The Raven“ ist eine sehr spannende Sache, die mir zwar schon immer gefallen hat, aber interessanterweise hatte ich gestern erst beim Einkaufen einen jener kostbaren Momente, in denen Theorie und Leben und Praxis plötzlich zusammenkommen und ich überhaupt die volle Tragweite dessen begriff, was überhaupt in dem Gedicht drin ist. Der erste Moment des Staunens war damals während meines Studiums, als in einer Ringvorlesung der gute Professor Lubbers auf der Bühne seine Vorlesung über Poe stoppte, um aus dem Gedächtnis aus dem Stand „The Raven“ zu zitieren. Das war so beeindruckend, dass der gesamte Saal still war, wie der alte Mann dort vorne mit Hingabe und Begeisterung Zeile um Zeile vortrug. In diesem Moment wurde mir erst bewusst, wie melodisch das Gedicht ist und was für eine komplizierte und faszinierende Rhythmik in ihm wohnt.

Kommen wir aber zu gestern beim Einkaufen, denn da schob ich gerade meinen Wagen mit den Einkäufen zum Auto, als ein Rabe über die Straße hoppelte. Ich schreibe bewusst „hoppelte“, denn irgendwas stimmte nicht. Dachte ich. Aber er hinkte nicht. Vielleicht war es auch normal. Er pickte auf dem Boden herum und krächzte, hüpfte weiter, krächzte. Wenn Leute kamen, beäugte er sie vorsichtig, hoppelte ein wenig weg, krächzte und pickte dann im Blumenkübel. Immer wieder krächzte er, als ob er den Menschen um ihn herum etwas sagen wollte.

Zufälligerweise war das alles direkt neben meinem Auto. Fasziniert beobachtete ich den Raben, während ich dann meine Einkäufe ins Auto packte. Er war ungewöhnlich nah, hatte scheinbar nicht viel Angst. Eher hatte ich Angst, dass er zu zutraulich ist und doch dann plötzlich den Hitchcock mit mir macht und mir die Augen rauspickt. Aber das passierte nicht. Er saß da, hoppelte ein wenig weiter, krächzte, hoppelte weiter, krächzte – als ob er sich mit mir unterhalten wollte.

Dann war ich fertig mit Einräumen und beobachtete ihn weiter. Er blickte zurück – und krächzte. Und dann musste ich an das Gedicht denken, denn war das nicht eine absolut ähnliche Situation? Da saß ein Rabe, der krächzte und der Mensch vor ihm dachte, er wollte ihm etwas sagen. Doch was? Nur ein Krächzen – sonst nichts mehr. Oder doch? Da ich vorher mir Gedanken machte, was das sollte, fühlte ich mich auch wieder an diverse Strophen erinnert, in der das lyrische Ich in dem Gedicht versucht, das Krächzen mit seiner verstorbenen Frau verzweifelt zu verbinden.

War genau so ein Moment das, was den Funken in Poes Kopf entspringen ließ? Na gut, vielleicht nicht genau so ein Moment, denn er hatte mit Sicherheit kein Auto und kam gerade nicht aus dem Real. Aber ich fand den Gedanken amüsant – und schön. Irgendwie machte alles noch viel mehr Sinn auf einmal und die Bedeutung des Gedichts multiplizierte sich für mich, denn neue Eindrücke und neue Assoziationen entstanden automatisch. Eigentlich ja egal, wie Poe dazu kam und was er damit wollte. Aber allein diese Gedanken fand ich ungeheuer spannend und bereichernd.

Sicherlich ist das Gedicht mehr und hat mehr Inhalt, denn es hat auch dieses Todesthema, die Verzweiflung, Liebe, Leiden, Lethargie, Sterben und viel mehr. Das ist mehr als nur ein Rabe, den man nicht versteht, der aber sich lebhaft mit einem… unterhält. In diesem Moment aber war ich so nahe an dem Gedicht auch in Wirklichkeit wie noch nie; wenigstens mit einem Teilaspekt.

Die ganze Heimfahrt hatte ich die Strophen des Gedichts im Kopf. Denn auch ich kann einen guten Teil auswendig – nicht alle, dafür ist das Gedicht zu lang. Aber zumindest die ersten Strophen gingen mal. Mittlerweile dank fehlender Übung dürfte es wohl nur noch die erste werden.

Zu Hause angekommen suchte ich nach einem Video, das ich vor langer Zeit hier einmal verlinkt hatte, in dem einer meiner Lieblingsschauspieler eines meiner Lieblingsgedichte zitiert: Vincent Price rezitiert „The Raven“ – etwas besseres gibt es kaum. Das wollte ich daher nach dieser kleinen Anekdote mit euch teilen. Es gibt kaum etwas Schöneres, wie ich finde und ich komme aus dem Schwärmen kaum noch heraus.

Viel Spaß:

Achtet auf die Rhythmik, auch auf die Mimik und das Vortragen von Vincent Price. Die Worte, die Rhythmik, die Atmosphäre, die Stimme… alles formt sich zu einem Meisterwerk zusammen. Vincent Price! Einer der größten Schauspieler, wie ich finde. Das berührt meine Seele und wenn ich da zuhöre, dann weiß ich genau, warum ich Amerikanistik studiert habe und was an all dem so toll ist und was in der Welt so großartig da draußen ist und warum ich mehr und mehr davon will.

Diese Freude, diese Leidenschaft, die mag ich vermitteln und auch Anderen zeigen und ihnen die Tür zu genau diesem Spaß öffnen.